Fachkräftemangel und ungenutzte Potenziale: Zur Realität von Vielfalt

In Deutschland wird seit Jahren ein zunehmender Fachkräftemangel beklagt. Unternehmen, öffentliche Einrichtungen und soziale Träger suchen dringend nach qualifizierten Personen – insbesondere in der Bildung, der Pflege, der Verwaltung und der IT. Gleichzeitig gibt es zahlreiche Menschen, die die erforderlichen Qualifikationen mitbringen, deren Potenziale aber aufgrund struktureller Hindernisse nicht genutzt werden. Viele von ihnen haben eine Migrationsgeschichte – und erleben, dass ihre Kompetenzen im deutschen Arbeitsmarkt systematisch übersehen werden.

Schulnoten und ungleiche Chancen

Ein zentrales Problem beginnt oft schon in der Schule. Studien zeigen, dass Schüler*innen mit Migrationshintergrund – trotz gleicher oder besserer Leistungen – systematisch schlechter bewertet werden. Untersuchungen des Deutschen Instituts für Normung (DIN) und der Universität Bremen belegen, dass Lehrkräfte bei der Notenvergabe unbewusste Vorurteile haben. Besonders betroffen sind Kinder mit türkischem, arabischem oder afrikanischem Hintergrund. Diese Benachteiligung beeinflusst nicht nur den Zugang zu höheren Bildungswegen, sondern wirkt sich auch langfristig auf die beruflichen Chancen aus.

Rassifizierte Übererwartung und strukturelle Benachteiligung

Ein weiteres häufig unbeachtetes, aber weit verbreitetes Muster im Alltag ist die sogenannte rassifizierte Übererwartung. Menschen mit Migrationsgeschichte sehen sich systematisch höheren Anforderungen ausgesetzt als Angehörige der Mehrheitsgesellschaft. Sie müssen nicht nur „gleich gut“, sondern oft sogar „wahre Wunder“ vollbringen, um überhaupt als kompetent oder „integriert“ zu gelten. Diese Form der positiven Diskriminierung – auch als benevolenter Rassismus bezeichnet – führt zu einem doppelten Druck: Anerkennung ist an ständige Übererfüllung geknüpft, während Normalität schnell mit Frustration oder Abwertung beantwortet wird. In der Schule und auf dem Arbeitsmarkt führt dies dazu, dass migrantische Personen häufig mit Vorurteilen konfrontiert sind – selbst bei besten Qualifikationen.

Chancenungleichheit auf dem Arbeitsmarkt

Wer das Bildungssystem in Deutschland erfolgreich durchlaufen hat, Abschlüsse erworben und vielfältige berufliche Erfahrungen gesammelt hat, erlebt trotzdem häufig Benachteiligung. Der Aufstieg in Leitungspositionen bleibt vielen verwehrt, und selbst die Wahrnehmung als „qualifiziert“ wird infrage gestellt. Der Sachverständigenrat für Integration und Migration (SVR) veröffentlichte 2022 eine Untersuchung, wonach Jugendliche mit Migrationshintergrund selbst bei gleichen Schulnoten und Qualifikationen deutlich schlechtere Chancen auf einen Ausbildungsplatz haben. In einem Korrespondenztest mit rund 3.600 Bewerbungen wurden Bewerber*innen mit türkischem Namen seltener eingeladen als jene mit deutschen Namen – bei identischer Bewerbungslage.

Der Mechanismus der radikalen Entwertung und idealisierten Überhöhung als Projektion: „Hosianna und kreuzigt ihn

Migrant*innen und ethnische Minderheiten werden oft als Projektionen gesellschaftlicher Wünsche idealisiert – sie gelten als besonders talentiert oder außergewöhnlich leistungsfähig. Diese unrealistischen Erwartungen beruhen häufig auf Stereotypen und führen zu einer verzerrten Wahrnehmung.

Sobald diese überhöhten Erwartungen mit Normalität konfrontiert werden, erfolgt eine radikale Entwertung. Was zuvor oft auch neidvoll als „ideal“ galt, wird jetzt voll Entäuschung vernichtet. Der Wechsel zwischen Idealiserung und Entwertung verursacht Frustration und Isolation. Die betroffenen Personen erleben keine echte Anerkennung, sondern werden zwischen überhöhten Erwartungen und Abwertung verstärkter Diskriminierung und Exklusion ausgesetzt.

Vielfalt in der Praxis: Lokale Erfahrungen und Herausforderungen

In Bergisch Gladbach gibt es diverse Initiativen, die Diversität und Integration fördern wollen, etwa der Integrationsrat der Stadt, der sich für Chancengleichheit einsetzt. Dennoch stoßen migrantische Organisationen in der praktischen Umsetzung auf strukturelle Hürden. Zivilgesellschaftliche Vereine, die von Menschen mit Migrationsgeschichte getragen werden, werden oft nicht in kommunale Entscheidungsprozesse einbezogen, und ihre Perspektiven finden in der Öffentlichkeit wenig Gehör.

Wirtschaftliche Folgen der strukturellen Ausgrenzung

Der Preis dieser strukturellen Ausgrenzung ist hoch – auch wirtschaftlich. Studien des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) und der OECD zeigen, dass die mangelhafte Integration von Menschen mit Migrationshintergrund jährlich Milliardenverluste verursacht. Un- oder unterbeschäftigte Fachkräfte bedeuten nicht nur Produktivitätsverluste, sondern auch höhere Kosten für Sozialleistungen und geringere Steuereinnahmen. Hinzu kommen Folgekosten durch Demotivation, Fluktuation und den Verlust von Know-how in Betrieben, die es nicht schaffen, eine inklusive Arbeitskultur zu etablieren.

Fachkräftestrategie und Teilhabegerechtigkeit

Eine echte Fachkräftestrategie kann nur gelingen, wenn Vielfalt nicht nur betont, sondern auch umgesetzt wird. Dafür braucht es nicht nur Ausbildungsinitiativen und Zuwanderungsgesetze, sondern ein strukturelles Umdenken. Qualifikationen müssen unabhängig von Herkunft anerkannt und genutzt werden können. Migrantische Organisationen müssen systematisch beteiligt werden – nicht symbolisch, sondern mit echter Mitentscheidung und ausreichenden Ressourcen. Vielfalt darf kein dekoratives Element der Öffentlichkeitsarbeit bleiben. Sie muss sich in Entscheidungsstrukturen, Personalpolitik und Förderpraxis widerspiegeln. Nur dann kann unsere Gesellschaft ihre sozialen und wirtschaftlichen Herausforderungen langfristig bewältigen.

Quellen:
¹ Sachverständigenrat für Integration und Migration (SVR) (2022): Diskriminierung am Ausbildungsmarkt. Ergebnisse eines Korrespondenztests in Deutschland
² OECD (2021), IW Köln (2022): Potentiale von Menschen mit Migrationshintergrund auf dem Arbeitsmarkt
³ Deutsches Institut für Normung (DIN) (2020): Studie zur Notenvergabe und Benachteiligung von Schülern mit Migrationshintergrund
⁴ Bertelsmann Stiftung (2020): Vielfalt und Chancengleichheit im deutschen Arbeitsmarkt




WDRforyou

Die Wirtschaft und der rechte Rand – Freihandel, Fachkräftemangel, Führungsstärke

Pressemitteilung

Öffentliche Diskussion: Wirtschaft und der rechte Rand – Freihandel, Fachkräftemangel, Führungsstärke

Bergisch Gladbach, 06. Februar 2025 – In Zeiten zunehmender politischer Polarisierung sehen sich Wirtschaftsakteure immer häufiger mit der Frage konfrontiert, ob und wie sie sich zu gesellschaftspolitischen Themen positionieren sollen. Die zunehmende Stärkung politischer Strömungen am rechten Rand hat Unternehmen und Wirtschaftsverbände in Deutschland zuletzt dazu veranlasst, ihre traditionelle parteipolitische Neutralität zu überdenken. Doch welche Auswirkungen hat diese Entwicklung auf den Freihandel und den Fachkräftemangel? Und welche Rolle spielt dabei wirtschaftliche Führungsstärke?

Diesen Fragen widmet sich die Veranstaltung

„Die Wirtschaft und der rechte Rand – Freihandel, Fachkräftemangel und Führungsstärke“,

die am 19. März 2025 von 19:00 bis 21:00 Uhr

im Haus Buchmühle (Buchmühlenstraße 12, Bergisch Gladbach)

stattfindet. Die Veranstaltung ist eine Kooperation zwischen dem Verein SoNett e.V. und der Volkshochschule (VHS) Bergisch Gladbach. Der Vortrag wird von

Dr. Matthias Diermeier vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) gehalten.

SoNett e.V. setzt sich als überparteilicher und unabhängiger Verein für gesellschaftlichen Zusammenhalt, demokratische Werte und eine starke Zivilgesellschaft ein. Der Verein engagiert sich insbesondere in den Bereichen politische Bildung, Demokratieförderung und soziale Gerechtigkeit. Durch verschiedene Bildungs- und Dialogformate bringt SoNett e.V. Akteure aus Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft zusammen, um Lösungen für aktuelle Herausforderungen zu entwickeln.

Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei der Verantwortung von Wirtschaftsführungen in einer sich wandelnden politischen Landschaft. In den vergangenen Monaten haben sich zahlreiche Wirtschaftsvertreter klar gegen Rassismus sowie für Vielfalt und Toleranz positioniert. Doch inwiefern dringen solche Botschaften tatsächlich durch? Und sollten sich Unternehmen überhaupt zu Fragen der Demokratie äußern?

Die Veranstaltung bietet Raum für einen offenen Austausch und lädt Bürgerinnen, Bürger sowie Unternehmerinnen und Unternehmer ein, sich aktiv an der Diskussion zu beteiligen. Dank der großzügigen Unterstützung durch die VR Bank ist die Teilnahme kostenlos. Eine Anmeldung ist erforderlich, da die Plätze begrenzt sind (70 Plätze verfügbar).

Hintergrund

Die Internationalen Wochen gegen Rassismus finden jährlich im März statt. Ziel der Wochen ist es, weltweit auf die Bedeutung des Antirassismus hinzuweisen und die Werte von Gleichheit und Menschenwürde zu fördern. Nähere Informationen zu den bundesweiten „Internationale Wochen gegen Rassismus“ sind unter https://stiftung-gegen-rassismus.de/ erhältlich.

Das Bündnis gegen Rassismus und für Vielfalt vereint mehr als 30 soziale, kirchliche und politische Organisationen aus Bergisch Gladbach und setzt sich für ein offenes, buntes und vielfältiges Miteinander in der Stadt ein. Das Bündnis wurde im Mai 2024 auf Initiative des Integrationsrates gegründet und steht unter der Schirmherrschaft von Bürgermeister Frank Stein. Zu den konkreten Aufgaben gehören unter anderem die Information, Aufklärung und Sensibilisierung zum Thema Rassismus, die Umsetzung von Projekten und Maßnahmen, die ein starkes Zeichen gegen Fremdenfeindlichkeit setzen, sowie die Förderung interkultureller Begegnungen.

Anmeldung und weitere Informationen:
Interessierte können sich über die VHS Bergisch Gladbach anmelden.

Für weitere Informationen kontaktieren Sie bitte:

Wir freuen uns auf eine spannende Diskussion!

Pressekontakt:
SoNett e.V.
E-Mail: info@sonett.nrw
Telefon: 02204 – 9849530

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